Die versteckte Männergewalt im Privaten

Ashley Memo, 18. März 2025

Lese­dauer: 10 Minuten

Noch vor rund 60 Jahren war die Gewalt, die viel­fach von Männern im Privaten ausgeübt wird, schlichtweg kein öffent­li­ches Thema. Daran änderten erst femi­nis­ti­sche Kämpfe etwas. Ab Ende der 1960er Jahre formierte sich in vielen Ländern eine Bewe­gung: promi­nent in den USA das ›battered women’s move­ment‹1, aber unter anderem auch im deutsch­spra­chigen Raum die Frau­en­haus­be­we­gung2. Feminist*innen – oft selber (ehemals) Gewalt­be­trof­fene – rückten die Gewalt ins Licht der Öffent­lich­keit, grün­deten ab 1974 Frau­en­häuser, stellten Forschungs­fragen und formu­lierten erste Entwürfe einer femi­nis­ti­schen Gewalt­kritik. Eine histo­risch erst­ma­lige massen­hafte Aufde­ckung und Skan­da­li­sie­rung von Männer­ge­walt – nicht nur im Privaten – begann. Diese Phase der Aufde­ckung kann, in den Worten der femi­nis­ti­schen Psycho­login Sharon Lamb, als Geburts­stunde der zweiten Welle des Femi­nismus begriffen werden3. Ihre Auswir­kungen auf die Kämpfe in den folgenden Jahr­zehnten bis heute sind kaum zu über­schätzen.

Wissen über Herr­schaft und Gewalt muss immer erst erkämpft werden und kann auch wieder in Verges­sen­heit geraten. Heute haben auch Feminist*innen mitunter nur ein unge­fähres Verständnis davon, worum es sich bei soge­nannter ›häus­li­cher Gewalt‹ handelt. Das ist fatal, weil diese Gewalt eine zentrale Stütze patri­ar­chaler Herr­schaft bildet. Ja, auch in relativ libe­ralen Gesell­schaften und sogar in (vermeint­lich) progres­siven sozialen Gruppen und Bewe­gungen. Um die Gewalt sinn­voll bekämpfen zu können, müssen wir sie verstehen. Dieser Text soll daher grob rekon­stru­ieren, wie Männer­ge­walt im Privaten ab den 1970ern von Feminist*innen theo­re­ti­siert wurde.

Die feministische Kritik an Ehe und Familie

Beson­ders das battered women’s move­ment in den USA brachte eine umfas­sende poli­ti­sche Theo­rie­bil­dung hervor. Männer­ge­walt wurde dabei von Anfang an klar in ihrer geschlecht­li­chen und poli­ti­schen Dimen­sion benannt. Es ging um ›wife beating‹ oder ›women batte­ring‹ – wobei ›to batter‹ sowohl ›schlagen‹ als auch ›miss­han­deln‹ bedeuten kann. Das erste femi­nis­ti­sche Stan­dard­werk zum Thema hieß ›Battered Wives‹ (Del Martin 1976), ein weiteres ›Violence Against Wives. A Case Against the Patri­archy‹ (Dobash & Dobash 1979) und ein drittes ›The Battered Woman‹ (Lenore Walker [1979]). Auch die Aufde­ckung der ähnlich weit verbrei­teten sexu­ellen Miss­hand­lung von Kindern und insbe­son­dere von Mädchen ist maßgeb­lich dem battered women’s move­ment zu verdanken: 1981 veröf­fent­lichten Judith Herman und Lisa Hirschman mit ›Father-Daughter-Incest‹ das erste femi­nis­ti­sche Stan­dard­werk zum sexu­ellen Miss­brauch von Mädchen durch ihre Väter und veror­teten die Gewalt dabei klar im patri­ar­chalen Geschlech­ter­ver­hältnis.

In der Gewalt­kritik der zweiten Frau­en­be­we­gung wurden Ehe und Familie nicht nur als ›Ort des Gesche­hens‹ beschrieben, sondern viel­mehr als Teil der patri­ar­chalen Sphäre des Privaten iden­ti­fi­ziert, in der Männer weit­ge­hend unge­stört Verfü­gungs­ge­walt über ›ihre‹ Frauen und Kinder aufbauen, sie unter­drü­cken und ausbeuten können – sowohl in sexu­eller und emotio­naler Hinsicht als auch als Arbeits­kräfte. Unter­stützt werden die Täter dabei auf insti­tu­tio­neller Ebene vom Staat, der Kirche und dem psycho­so­zialen Sektor: Diese tragen durch Nichtstun oder sogar durch aktive Mittä­ter­schaft dazu bei, dass männ­liche Verfü­gungs­macht im Privaten fort­be­stehen kann und Betrof­fene kein Gehör oder prak­ti­sche Unter­stüt­zung finden.

Wie diese insti­tu­tio­nelle Mittä­ter­schaft vor 50 Jahren konkret aussah, lässt sich etwa bei Del Martin erfahren. So ist zu Beginn ihres Buches ein Brief wieder­ge­geben, in dem eine miss­han­delte Ehefrau beschreibt, wie sie wieder­holt nach Hilfe sucht und immer wieder abge­wim­melt wird: Ein Geist­li­cher empfiehlt ihr, dem Täter zu vergeben; ein Doktor will ihr Pillen gegen Nervo­sität verschreiben; ein zweiter Doktor fragt sie, wie sie ihren Mann provo­ziert habe, und ein dritter, ob sich die beiden schon wieder versöhnt hätten. Eine Freundin will gerne helfen – aber ihr Mann verbietet es. Die betrof­fene Ehefrau ruft die Polizei an; diese geht nicht ans Telefon, ruft dann aber nach einigen Stunden Untä­tig­keit zurück und fragt, ob ›sich die Dinge wieder beru­higt hätten‹. Der Brief endet mit der vorsich­tigen Hoff­nung der Ehefrau, ihre Ausbil­dung beenden zu können und einen Job zu finden, um sich auf diese Weise doch noch vom Täter unab­hängig zu machen.

Es ging der femi­nis­ti­schen Gewalt­kritik also nicht um irgend­eine abstrakte Unter­drü­ckung durch ›die patri­ar­chalen Verhält­nisse‹, von der auch heute in der weit­ge­hend männer­do­mi­nierten und täter­schüt­zenden Linken immer wieder schwa­dro­niert wird. Sondern es ging zentral um die Benen­nung und Analyse von konkreter Täter­schaft und Mittä­ter­schaft. Die prak­ti­sche Antwort auf die Gewalt war das battered women’s move­ment: eine Bewe­gung, die sich aus dem Erfah­rungs­aus­tausch zwischen Betrof­fenen entwi­ckelte und im Verlauf weniger Jahre in vielen Ländern massiv an Zulauf gewann. Diese Bewe­gung zielte darauf, durch kollek­tive poli­ti­sche Praxis all jene, die von Männer­ge­walt betroffen waren, in ihrer auto­nomen Hand­lungs­macht zu stärken und ihnen ein selbst­be­stimmtes Leben zu ermög­li­chen – und zwar ausdrück­lich gegen die Inter­essen der Täter und der staat­li­chen und sons­tigen Mittäter(*innen).

Was tun Täter?

Dabei war das femi­nis­ti­sche Verständnis von Gewalt bereits in den 1970ern erstaun­lich diffe­ren­ziert. Zwar lag ein Schwer­punkt vieler früher Texte auf körper­li­cher Gewalt, dennoch wurden auch andere Aspekte beleuchtet: sexu­eller Miss­brauch, Besitz­an­sprüche, Isola­tion, finan­zi­elle Ausbeu­tung, verbaler Miss­brauch und weitere Formen oder Aspekte von Gewalt und Kontroll­ver­halten. So beschrieb etwa die femi­nis­ti­sche Psycho­login Lenore Walker 1979 verbale Miss­hand­lung und Ernied­ri­gung als die für viele Betrof­fene wirk­samste Form der Miss­hand­lung.

Walker war es auch, die das Modell des ›cycle of abuse‹ entwarf und in die Debatte einführte. Das Modell wurde inter­na­tional breit rezi­piert und bildet heute – über­setzt als ›Gewaltkreislauf‹-Modell – auch im deutsch­spra­chigen Raum einen wich­tigen Bezugs­punkt in der Forschung und Praxis zu bzw. gegen ›häus­liche Gewalt‹. Grob gesagt werden mit dem Modell mehrere vonein­ander unter­schie­dene und sich wieder­ho­lende Phasen der Miss­hand­lung von Frauen beschrieben: 1. die Phase des Span­nungs­auf­baus, 2. die Phase offener, mitunter exzes­siver Gewalt und 3. die Phase der vom Täter gezeigten Reue und Versöh­nungs­an­ge­bote. Damit ist ein wich­tiger Aspekt der Gewalt benannt: Täter wech­seln – oftmals syste­ma­tisch – zwischen Leid­zu­fü­gung und (emotio­naler) Zuwen­dung hin und her. Insbe­son­dere unmit­telbar nach Gewalt-›Ausbrüchen‹ beteuern Täter Betrof­fenen häufig ihre Liebe, verspre­chen ihnen eine bessere Zukunft oder machen ihnen Geschenke. Damit bauen sie emotio­nalen Druck auf Betrof­fene auf, nicht zu gehen oder andere ernste Konse­quenzen aus der Gewalt zu ziehen. Diesen Druck verstärken Täter häufig noch durch verge­schlecht­lichte Schuld­zu­wei­sungen: Als ›gute Frau‹ sei die betrof­fene Person verant­wort­lich für die Beziehung/Familie, deren Zerstö­rung sie aufs Spiel setzen würde, wenn sie sich trennen oder schlecht über den Täter spre­chen würde. Mitunter ist es harte thera­peu­ti­sche Arbeit für Betrof­fene, diese Schuld­zu­wei­sung nach­träg­lich zurück­zu­weisen.

Die eben­falls eng mit dem battered women’s move­ment verbun­dene Psycho­login Judith Herman erar­bei­tete aus ähnli­chen (klini­schen) Erfah­rungen mit Betrof­fenen heraus die Grund­lagen für eine femi­nis­tisch infor­mierte Trau­ma­theorie ([1992]). Herman ist eine aner­kannte Pionierin der Trau­ma­for­schung und Urhe­berin des heute welt­weit verbrei­teten Modells der Post­trau­ma­ti­schen Belas­tungs­stö­rung, das sie ausge­hend von ihrer Arbeit sowohl mit Betrof­fenen ›häus­li­cher Gewalt‹ als auch mit Vete­ranen des Viet­nam­krieges entwi­ckelte. Herman zufolge besteht ein zentraler Aspekt von Männer­ge­walt im Privaten darin, dass Täter syste­ma­tisch die innere Verbin­dung von Betrof­fenen zu anderen Menschen angreifen – insbe­son­dere durch Formen sexu­eller Ernied­ri­gung und die damit verbun­dene Erzeu­gung von Scham und Ekel. Täter versu­chen damit zu errei­chen, dass Betrof­fene sich (als Frauen) zu wertlos, schmutzig oder fremd­artig fühlen, um über­haupt noch für sich einstehen zu wollen oder zu können. Die den Betrof­fenen damit aufge­zwun­gene psychisch-emotio­nale Not und Insta­bi­lität nutzen Täter häufig wiederum auf perfide Weise aus, um Betrof­fenen Linde­rung, Trost und Halt anzu­bieten – also Linde­rung für eine Not, die sie selber über­haupt erst erzeugt haben(!). Damit können Täter mitunter eine massive emotio­nale Abhän­gig­keit schaffen, die bis hin zu einer trau­ma­ti­schen Bindung reichen kann4.

Sowohl das ›Gewaltkreislauf‹-Modell als auch die femi­nis­ti­sche Trau­ma­theorie tendieren nun aller­dings dazu, Gewalt und ihre Folgen auf psychi­sche Aspekte zu redu­zieren. Die Gewalt erscheint damit schnell als bloße Zufü­gung von Leiden, als Erzeu­gung von psychisch-emotio­naler Insta­bi­lität oder Abhän­gig­keit. Beson­ders im ›Gewaltkreislauf‹-Modell scheint die Gewalt außerdem auf einzelne, wenn­gleich sich wieder­ho­lende ›Ereig­nisse‹ beschränkt zu bleiben: Es scheint, als werde Gewalt mal ausgeübt und mal nicht – als gebe es also Zeit­räume, in denen die Betrof­fenen der Gewalt nicht ausge­setzt sind und in denen sie daher eigent­lich die Möglich­keit haben müssten, zu gehen5. Dieser Möglich­keit scheinen Betrof­fene im ›Gewaltkreislauf‹-Modell tenden­ziell seltsam passiv gegen­über­zu­stehen6.

Wie oben beschrieben, versu­chen Betrof­fene aber häufig durchaus und wieder­holt, ihre Situa­tion zu verbes­sern und Unter­stüt­zung zu finden. Weder sind alle Gewalt­be­trof­fenen im klini­schen Sinn trau­ma­ti­siert, noch empfinden sie alle Liebe zum Täter oder hegen falsche Hoff­nungen auf ein Ende der Gewalt. Vor diesem Hinter­grund stellt sich die Frage, was Betrof­fene in einem allge­mei­neren Sinn daran hindert, ein selbst­be­stimmtes Leben zu leben. Auf die Täter hin gewendet: Was tun Täter außerdem und in einem allge­mei­neren Sinn, um Kontrolle über Betrof­fene aufzu­bauen und einen Zustand zu erzeugen, in dem es für Betrof­fene entweder nicht möglich oder zumin­dest nicht viel­ver­spre­chend genug erscheint, zu gehen oder andere vom Täter nicht erwünschte Konse­quenzen zu ziehen?

Zwangskontrolle

Die Antwort lautet: Coer­cive Control. Ins Deut­sche über­setzt: ›Zwangs­kon­trolle‹ (›coer­cion‹ = ›Zwang‹). Es handelt sich um ein umfas­sendes Verhal­tens­muster mit dem Ziel, in Bezie­hungen andau­ernde Domi­nanz und Kontrolle über andere aufzu­bauen7. Zwangs­kon­trolle liegt einem Groß­teil soge­nannter ›häus­li­cher Gewalt‹ zugrunde und bildet gewis­ser­maßen deren patri­ar­chalen Kern8. Zwangs­kon­trolle kann verschie­dene Formen von Gewalt umfassen: körper­liche und sexu­elle Gewalt, emotio­nale und psychi­sche Gewalt, finan­zi­ellen Miss­brauch, soziale Isola­tion, Stal­king, Über­wa­chung und tech­no­logie-gestützte Gewalt, repro­duk­tiven Zwang und den Miss­brauch von (sozi­al­staat­li­chen und juris­ti­schen) Dienst­leis­tungen und Hilfe­an­ge­boten9.

Inter­es­san­ter­weise wurden Aspekte von Zwangs­kon­trolle in der femi­nis­ti­schen Lite­ratur ab den 1970ern immer wieder beschrieben und ein Stück weit theo­re­ti­siert10, fanden aber als Teil eines umfas­senden Verhal­tens­mus­ters in der brei­teren Theorie und Praxis zu bzw. gegen ›häus­liche Gewalt‹ lange Zeit nur wenig Beach­tung. Der Main­stream der ›dome­stic violence‹-Bewegung rich­tete seinen Fokus eher auf Fragen von (psychi­scher und körper­li­cher) Schä­di­gung bzw. Gesund­heit. Entschei­dend für ein Verständnis von Zwangs­kon­trolle ist aber nicht die Frage, wie Täter Betrof­fene schä­digen, sondern woran sie Betrof­fene hindern. Diese Frage wurde im battered women’s move­ment der 1970er zwar gestellt und erör­tert, fand aber in der sich entwi­ckelnden femi­nis­ti­schen Anti­ge­walt-Arbeit keine brei­tere Beach­tung und ging im Zuge der Profes­sio­na­li­sie­rung und Insti­tu­tio­na­li­sie­rung dieser Arbeit in den folgenden Jahr­zehnten zuneh­mend verloren. Zumin­dest im englisch­spra­chigen Raum fand Zwangs­kon­trolle als Erklä­rungs­an­satz spätes­tens ab dem Jahr 2007 wieder mehr Beach­tung, nament­lich mit Veröf­fent­li­chung des Buches ›Coer­cive Control. How Men Entrap Women in Personal Life‹, verfasst vom foren­si­schen Sozi­al­ar­beiter Evan Stark. Das Buch hat unter anderem in den USA und England wich­tige Debatten und Forschung ange­stoßen, wurde aller­dings – wie eine ganze Reihe englisch­spra­chiger Stan­dard­werke der femi­nis­ti­schen Gewalt­for­schung – bisher nicht ins Deut­sche über­setzt. Allge­mein wird das Phänomen der Zwangs­kon­trolle im deutsch­spra­chigen Raum erst seit einigen Jahren verein­zelt in der akade­mi­schen Lite­ratur zu ›häus­li­cher Gewalt‹ aufge­griffen11; hier besteht also drin­gender Nach­hol­be­darf.

Mit Zwangs­kon­trolle als Erklä­rungs­an­satz lässt sich zeigen, wie ziel­ge­richtet und syste­ma­tisch viele Männer im Privaten versu­chen, die Selbst­be­stim­mung und die Hand­lungs­mög­lich­keiten ›ihrer‹ Frauen – und Kinder12 – zu unter­graben und damit Kontrolle, Verfü­gungs­macht und Abhän­gig­keiten aufzu­bauen. Das allge­meinste Mittel der Kontrolle sind dabei keine offenen Akte der Gewalt, sondern im Gegen­teil die Mikro-Regu­la­tion von alltäg­li­chem, mit der stereo­typen ›weib­li­chen Rolle‹ verbun­denen Verhalten: Täter versu­chen zu regu­lieren, wie sich Betrof­fene ›als Frauen‹ anziehen, kochen, putzen, soziale Bindungen eingehen, sich kümmern oder, häufig zentral: wie sie sich sexuell verhalten. Dazu setzen Täter ein System aus mehr oder weniger subtilen Beloh­nungen und Bestra­fungen ein, um erwünschtes Verhalten zu erzwingen und uner­wünschtes Verhalten zu unter­binden. Dieses System hört zwischen einzelnen Gewalt­hand­lungen nicht einfach auf zu wirken, sondern Betrof­fene stehen häufig viel­mehr dauer­haft unter Druck, es Tätern recht zu machen und die Grenzen des Erlaubten nicht zu über­treten.

Zwangs­kon­trolle ist in mehr­fa­cher Hinsicht versteckte Gewalt. Zum einen achten Täter darauf, dass von ihrer Gewalt möglichst wenig nach außen dringt. Viel ›häus­liche Gewalt‹ ist aus nahe­lie­genden Gründen im wört­li­chen Sinn ›Gewalt im Haus‹: physisch abge­schirmt und verborgen durch die Wände von Häusern und Wohnungen, durch zuge­zo­gene Gardinen und geschlos­sene Türen. Zum anderen setzen Täter ihre Gewalt im Beisein anderer Menschen in der Regel nur in ›sozial verträg­li­chen‹ oder kaum sicht­baren Formen ein. Ein Beispiel für solche nahezu unsicht­bare Gewalt sind die kurzen Blicke, mit denen viele Täter versu­chen, Betrof­fene in Anwe­sen­heit anderer Menschen zu maßre­geln. Diese Blicke wirken auf Außen­ste­hende oftmals völlig unver­fäng­lich oder werden gar nicht bemerkt, während Betrof­fene sie zu Recht als Warnung oder Drohung verstehen können: Nach Ansicht des Täters tun sie offenbar etwas ›falsches‹, das sie sein lassen sollen, weil sie sonst später von ihm bestraft werden.

Täter versu­chen ihre Gewalt aber nicht nur vor Außen­ste­henden zu verste­cken, sondern ein Stück weit auch vor den Betrof­fenen selbst. Hierzu greifen sie häufig syste­ma­tisch die Wahr­neh­mung von Betrof­fenen an und versu­chen die Gewalt als solche zu entnennen. Viele Täter defi­nieren ihre Gewalt aktiv um, zum Beispiel zu ihrem persön­li­chen ›Tick‹, zu einem ›emotio­nalen Kontroll­ver­lust‹ oder einer ›legi­timen Reak­tion‹ auf angeb­liche ›Provo­ka­tionen‹ durch Betrof­fene. Solche Angriffe auf die Wahr­neh­mung und das Urteils­ver­mögen von Betrof­fenen sind für sich bereits gewalt­voll und oft fester Teil eines umfas­senden Kontroll­ver­su­ches.

Mit dem Konzept der Zwangs­kon­trolle ist ein zentrales Thema femi­nis­ti­scher Gewalt­theorie klarer als zuvor beschrieben: die Unter­drü­ckung von Frauen im Privaten und ins Private hinein. Der allge­meinste Effekt von Zwangs­kon­trolle auf Betrof­fene besteht in einer Art Gefan­gen­schaft (›entrap­ment‹) in der häus­li­chen bzw. privaten Sphäre der Familie oder Paar­be­zie­hung, in der sie sich umfas­send der Erfül­lung der Ansprüche von Männern verschreiben sollen. Aus dieser Gefan­gen­schaft können Betrof­fene wegen der von Tätern aufge­bauten Droh­ku­lisse und wegen der syste­ma­ti­schen Einschrän­kung ihrer Auto­nomie häufig nur schwer ausbre­chen und oft auch nur einge­schränkt Hilfe­si­gnale senden. Wegen dieser wich­tigen Dimen­sion der Gefan­gen­schaft ist Zwangs­kon­trolle zentral als ein Verbre­chen gegen die Frei­heit und damit als ein genuin poli­ti­sches Problem zu verstehen. Täter versu­chen zu errei­chen, dass Betrof­fene in einem umfas­senden Sinn keine wich­tigen unab­hän­gigen Entschei­dungen mehr treffen können – selbst wenn solche Entschei­dungen in relativ libe­ralen Gesell­schaften von den äußeren Bedin­gungen her prin­zi­piell durchaus möglich wären. Täter nutzen die patri­ar­chale Unter­ord­nung von Frauen also mitnichten nur aus, sondern schaffen sie in gewisser Weise über­haupt erst als persön­liche Unter­drü­ckung im Privaten. In den Worten Judith Hermans: »Versteckte männ­liche Gewalt erzwingt die Unter­ord­nung der Frau und erhält sie aufrecht«13.

Was tun?

Da Männer­ge­walt im Privaten im Kern aufge­zwun­gene Unfrei­heit bedeutet, muss femi­nis­ti­sche Praxis ihren Fokus darauf legen, die Hand­lungs­mög­lich­keiten von Betrof­fenen möglichst auszu­weiten. Einige Ansatz­punkte hierfür sind Kämpfe für güns­tigen Wohn­raum, für die Verbes­se­rung von Gewalt­schutz-Stan­dards oder für den Ausbau von Bera­tungs- und Unter­stüt­zungs­an­ge­boten. Auch in persön­li­chen Bezie­hungen und Umfel­dern können wir viel tun: Wir können uns und unsere Freund*innen über typi­sche Verhal­tens­weisen von Täter(*inne)n aufklären und lernen, Anzei­chen von Gewalt besser zu erkennen. Und wir können uns prak­ti­sche Fähig­keiten und Wissen aneignen, um (andere) Betrof­fene in unter­schied­li­chen Situa­tionen verläss­lich unter­stützen zu können.

Wissen ist viel­leicht noch nicht gleich Macht, aber eine wich­tige Voraus­set­zung dafür. Eine unab­ding­bare Grund­lage jeder femi­nis­ti­schen Praxis gegen Männer­ge­walt im Privaten ist ein fundiertes Verständnis dieser Gewalt selber, beson­ders in ihren unter­schwel­ligen und weniger sicht­baren Formen. Um etwas sinn­volles tun zu können, müssen wir wissen, womit wir es zu tun haben – als Betrof­fene und als Unterstützer*innen.

  1. Vgl. Dobash & Dobash 1979 ↩︎
  2. Vgl. Brückner & Hage­mann-White 2001 ↩︎
  3. Vgl. Lamb 2006: 47 ↩︎
  4. Vgl. Enander & Holm­berg 2008; Herman 1994 ↩︎
  5. Siehe hierzu Stark 2007: 245–248 ↩︎
  6. Siehe hierzu Burgard 1985 ↩︎
  7. Vgl. ANROWS 2021 ↩︎
  8. Vgl. Myhill 2015; Beck­with u.a. 2023; Mitchell & Raghavan 2019; Tanha u.a. 2010; Pitman 2017 ↩︎
  9. Vgl. Beck­with u.a. 2023: 4 ↩︎
  10. Vgl. Stark 2007: 198–227 ↩︎
  11. Siehe etwa Mesh­kova 2020; Jahn & Raghavan 2021 ↩︎
  12. Siehe etwa Katz 2022 ↩︎
  13. Herman 1994: 50 ↩︎

Lite­ratur: